
VERÖFFENTLICHT December 17, 2021 UP
Im beruflichen Kontext kommen Menschen mit Ihren Werten und Haltungen in einer zweckbestimmten, zielgerichteten und hierarchisch aufgebauten Organisation zusammen. Sie verhalten sich in diesem speziellen System aus Gründen des Selbstschutzes häufig abwartend, passiv und sind bemüht, Fehler zu vermeiden, wollen keine Verantwortung übernehmen.
„Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben.“ (Epiktet)
Diese Haltung verhindert Potenzialentfaltung und persönliches Wohlbefinden und sie ist eine Herausforderung für Unternehmen, die in der digitalen Arbeitswelt als resiliente Organisation bestehen wollen. In diesem Artikel möchte ich zeigen, wieso dies so ist und was getan werden kann, um Potenzialentfaltung zu ermöglichen.
Grundbedürfnisse
Menschen haben, unabhängig von Kultur, Alter und Bildungsniveau psychische Grundbedürfnisse, die über die physiologischen Grundbedürfnisse hinausgehen. Es sind die Bedürfnisse nach:
- Bindung und Zugehörigkeit (Das Bedürfnis nach Mitmenschen, nach Nähe zu einer Bezugsperson.)
- Orientierung und Kontrolle (Die Grundüberzeugung, ob im Leben Kontrollmöglichkeiten bestehen, es vorhersehbar ist und ob es sich lohnt, sich einzusetzen. Das Kontrollbedürfnis wird befriedigt durch möglichst viele Handlungsalternativen, einen großen Handlungsspielraum, Autonomie.)
- Selbstwerterhöhung und -schutz (Das Bedürfnis, sich selber als gut, kompetent, wertvoll und von anderen geliebt zu fühlen. Zur Bildung eines guten Selbstwertgefühls braucht es eine wertschätzende Umgebung, die einem etwas zutraut, unterstützt.)
- Lustgewinn und Unlustvermeidung (Das Bestreben, erfreuliche, lustvolle Erfahrungen herbeizuführen und schmerzhafte, unangenehme Erfahrungen zu vermeiden.)[1]
Teil einer Gemeinschaft zu sein, sich mit seiner Individualität in der Gemeinschaft sicher und angenommen fühlen zu können, sich mit seinen Fähigkeiten einbringen zu können, etwas Sinnvolles mitgestalten zu können, all diese Wünschen entspringen unseren Grundbedürfnissen. Werden diese erfüllt, erleben wir dieses als einen Zustand der Stimmigkeit, unsere Lebenswirklichkeit entspricht unsere Erwartungen – und es fühlt sich richtig oder kohärent an.
Diese Grundbedürfnisse in uns Menschen streben auch im Berufsleben nach Erfüllung. Werden dort vertrauenswürdige Räume und Möglichkeiten geschaffen, in denen Gemeinschaftsgefühl und Begeisterung möglich ist, dann kann es zur Potenzialentfaltung kommen. Die meisten Menschen wollen ihr Bestes geben, wenn man sie das dafür notwendige Umfeld gestalten lässt. Wenn sie sich gefördert und gefordert fühlen, sind sie bereit, an ihre Grenzen zu gehen und sprichwörtlich über sich hinaus zu wachsen.
Verdrängung und Glaubenssätze
Bereits zu Beginn der Erziehung, später in Kindergarten, Schule, Ausbildung und Beruf wird mehr oder weniger häufig und intensiv die Erfahrung gemacht, dass unsere Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden, Erwartungshaltungen werden enttäuscht. Um mit dieser Situation umgehen zu können, um wieder einen für uns stimmigen, konsistenten Zustand der zu erreichen, werden bestimmte Bewertungen vorgenommen, Verarbeitungsmuster entwickelt und in negativen Glaubenssätzen zementiert.
Beispiele für negative Glaubenssätze im Berufsleben:
- Im Beruf wird man nur ausgenutzt und wer nicht mehr kann, wird ausgemustert
- Bloß nicht auffallen und keinen Fehler machen, sonst geht’s einem an den Kragen
- Risiken einzugehen ist ein Fehler, denn wenn man sich irrt, ist man der Dumme
- Menschen um Hilfe zu bitten, ist ein Zeichen von Schwäche
- Wenn man etwas nicht zu einhundert Prozent kann, hat es überhaupt keinen Sinn, damit anzufangen
- Fragen zu stellen, ist ein Zeichen von Schwäche
- Man darf niemandem mehr vertrauen, sonst wird man bitter enttäuscht.
Diese Glaubenssätze, die auch als Überzeugungen oder Einstellungen (englisch „Beliefs“) bezeichnet werden, sind unterbewusste Lebensregeln. Sie entstehen aus der Verarbeitung und Bewertung früherer Erlebnisse und haben noch im Erwachsenenalter großen Einfluss auf Denken, Fühlen und Handeln von Menschen.
Nicht die Tatsachen selbst, sondern unsere Wahrnehmung der Tatsachen entscheidet über unser Handeln.
„Innere Haltungen und Einstellungen sind im Gehirn verankerte, mit emotionalen Netzwerken gekoppelte, integrierte Erfahrungen. Diese einmal erworbenen Haltungen (Einstellungen, Überzeugungen Vorstellungen, Ideen), nicht das auswendig gelernte Wissen bestimmen darüber, wie und wofür ein Mensch sein Gehirn benutzt, wie er sich in bestimmten Situationen verhält.“[2]
Die Erkenntnis, dass dies so ist, und dass unsere Wahrnehmung der Welt sowie unser Verhalten weniger von den objektiven Gegebenheiten bestimmt wird, als vielmehr von unserer subjektiven Bewertung dieser Gegebenheiten, stammt vom amerikanischen Psychologen Albert E. Ellis, der das sog. ABC-Modell entwickelte. Das ABC-Modell hat seinen Ursprung in der Verhaltenstherapie und zählt zu den, in ihrer Wirksamkeit wissenschaftlich am intensivsten beforschten Therapieverfahren.
Karen Reivich und Andrew Shatté nutzen diesen Ansatz für ihr Resilienzkonzept:
„Die Grundlage der sieben Fähigkeiten der Resilienz beruht auf der einfachen Erkenntnis, dass unsere Emotionen und Verhaltensweisen nicht durch Ereignisse selbst ausgelöst werden, sondern durch die Art und Weise, wie wir diese Ereignisse interpretieren.”[3]
Einladung zur Potenzialentfaltung
Nun sind längst nicht bei alle Menschen deren Potenziale vollständig unter negativen Glaubenssätzen verborgen. Im beruflichen Kontext kommen Menschen jedoch mit Ihren Werten und Haltungen in einer zweckbestimmten, zielgerichteten und hierarchisch aufgebauten Organisation zusammen. Sie verhalten sich in diesem speziellen System aus Gründen des Selbstschutzes häufig abwartend, passiv und sind bemüht, Fehler zu vermeiden, wollen keine Verantwortung übernehmen. Diese Haltung ist verständlich, aber sie entspricht nicht den tatsächlich vorhandenen Grundbedürfnissen, dazu zu gehören (Bindung), zeigen zu können, was man kann (Selbstwerterhöhung), Freude oder Begeisterung zu erleben, bei dem zu empfinden, was man tut (Lustgewinn).
Dass Bedürfnisse und Potenziale gerade auch bei sich beruflich passiv verhaltenden Mitarbeiter vorhanden sind, kann man beobachten, wenn dieselben Menschen im Ehrenamt als pro-aktive Macher auftreten, Verantwortung übernehmen und gestalterisch wirken.
Die Kunst besteht nun darin, durch den Berg negativer Haltungen hindurch zu graben und den Schatz zu heben, der darunter liegt. Das kann jedoch nicht seitens der Führungskraft angeordnet werden, sondern dazu bedarf dazu der intrinsischen Motivation der Mitarbeiter, sich anders zu verhalten. Um diese zu wecken, bedarf es gegenseitigen Vertrauens, Vertrauenswürdigkeit, Glaubwürdigkeit, also einer wertschätzenden Kultur im Team oder im Unternehmen und es bedarf der Fähigkeit, Einladungen auszusprechen, Mut zu machen, zu inspirieren. Wenn das mit langem Atem betrieben wird, kann man schließlich dahin zu kommen, dass sich die Mitarbeiter tatsächlich öffnen, entdecken und dass sie zeigen, was in ihnen steckt, also ihr Potenzial zur Entfaltung bringen.
Notwendige Veränderungen in den Unternehmen
Unternehmen wurden gegründet und werden betrieben, um Gewinne zu erwirtschaften. Um dieses Ziel als Unternehmen zu erreichen, also erfolgreich zu sein, braucht es gute Produkte, zweckdienliche Organisation und Prozesse und eine gute Umsatzrendite. Durch immer intelligente Technik, verbesserte Arbeitsmethoden, Controlling usw. wurde in den vergangenen Jahrzehnten unglaublich viel erreicht, um die Produktionsabläufe effizienter zu gestalten. In vielen Bereichen ist da kaum noch Luft nach oben. Mit dieser Art zu denken und zu handeln, konnten eine ganze Zeitlang die Gewinne gesteigert werden. Dabei ist allerdings auch viel auf der Strecke geblieben. Wenn sich ein Mitarbeiter nur noch wie ein Zahnrad in einem Getriebe fühlt, dann ist kein Platz mehr und Begeisterung. Wenn es nur noch darum geht, zu funktionieren, dann ist der Innovationsgeist bald verbraucht.
Weiterentwicklung von Unternehmenskultur und Führung
Um auch in Zukunft in der digitalen Arbeitswelt erfolgreich zu sein, bedarf es einer evolutionären Weiterentwicklung der Unternehmenskultur, es bedarf es der Einsicht, dass Hard- und Soft Skills gleichberechtigt wichtig für den Erfolg sind. Hierarchie und Führung werden weiterhin elementar wichtig und notwendig sein. Aber Hierarchien müssen flacher werden und durch kompetenzbezogene Führung ergänzt werden. Führungskräfte müssen in der digitalen Welt in der Lage sein,
- sich schnell auf Veränderungen einstellen und diese managen,
- vernetzt und interdisziplinärer zusammenarbeiten,
- emotional und beteiligungsorientiert zu führen,
- eine offene Vertrauens- Feedback- und Fehlerkultur etablieren,
- den Mitarbeitern mehr Selbständigkeit und Entscheidungsfreiheit geben und sie darin aktiv zu unterstützen
- offen, transparent und konsequent Wissen weitergeben
- sich auf wechselnde Ziele zu fokussieren.
Es geht also keinesfalls darum, Führung abzuschaffen, sondern darum, eine Führungskultur zu etablieren, welche die Potenzialentfaltung aller Mitarbeiter fördert, ihnen mehr Entscheidungsfreiheit und Handlungsspielräume überlässt, die Fehler als Quelle für Verbesserungen sieht, die den Mitarbeitern jedoch auch mehr eigenständiges Engagement und die Bereitschaft zu Übernahme von Verantwortung zumutet.
Potenzialentfaltung wird möglich, wenn im Unternehmen also eine Kultur geschaffen wird, in der jede/r Einzelne im Team oder in der Abteilung dauerhaft die Erfahrung macht,
- in der Interaktion mit den anderen Akteuren als Individuum wahrgenommen und anerkannt zu werden (Bindung)
- sich als wichtig empfinden zu können und empfunden zu werden (Selbstwerterhöhung)
- eigene Ideen, Fähigkeiten und Begabungen einbringen kann (Lustgewinn)
- in einer wertschätzenden, leistungsfördernden und erfolgsorientierten Kultur mit den anderen Mitgliedern seines Teams verbunden zu sein (Orientierung und Kontrolle).
Im Ergebnis können die Mitarbeiter ihre Ressourcen besser nutzen, ihre Wirksamkeit erhöhen, Ihre Leistung verbessern und ihre Resilienz verbessern, also besser mit schwierigen Situationen umgehen. Über die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Bindung wird ein Prozess in Gang gesetzt, der sinnstiftend und begeisternd wirkt. Dadurch ändert sich wiederum die Haltung und die Beziehungen untereinander werden verbessert. Als Ergebnis des Prozesses der Potenzialentfaltung werden das persönliche Wohlbefinden, der persönliche Erfolg, die persönliche und die organisationale Resilienz, als auch der Erfolg des Unternehmens nachhaltig gesteigert.
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Quellen:
[1]Vgl. Grawe, Klaus, Neuropsychotherapie, Hofgreve Verlag, Göttingen, 2004, S. 183ff
[2]Zit. Hüther, Gerald. Was wir sind und was wir sein könnten: Ein neurobiologischer Mutmacher. Fischer Verlag. Frankfurt, 2013. S. 70f
[3]„The foundation of the seven skills of resilience is built on the simple realization that our emotions and behaviors are triggered not by events themselves but by how we interpret those events.” Zit. Reivich, Karen. The Resilience Factor: 7 Keys to Finding Your Inner Strength and Overcoming Life’s Hurdles Kindle-Version, Positionen1201-1203